Interview

Alina Hesse äußert sich zur Studie "Digital Health" von Bitkom e.V.

  • Digitalisierung als Chancen für unser Gesundheitssystem
  • Rasant steigende Nutzerzahlen
  • Mehr Tempo beim digitalen Ausbau gefordert

Mit der Zulassung der Fernbehandlung 2018 wurde der Grundstein für Videosprechstunden in Deutschland gelegt. Laut Ihrer “Digital Health” Studie steigt die Akzeptanz für digitale Gesundheitsangebote in allen Bereichen. 

57 % sehen durch die Digitalisierung Chancen für unser Gesundheitssystem. Welche Chancen sind das konkret?

Alina Hesse: Die Digitalisierung ist aus dem Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. Ob beim Erkennen von Krankheiten, bei der Therapie oder bei der Kommunikation zwischen Arzt und Patient: Digitale Technologien bergen ein großes Potenzial und sorgen für eine bessere und effizientere Versorgung. Zugleich ringt der Gesundheitsmarkt mit einer Vielzahl an Herausforderungen:

Eine alternde Gesellschaft, Fachkräftemangel, Pflegenotstand und hoher Kostensenkungsdruck erschweren eine gerechte, flächendeckende und wirksame Versorgung. Und nicht zuletzt bringt die Globalisierung neue, grenzüberschreitende Gesundheitsrisiken mit sich. Eine leistungsfähige Patientenversorgung wird daher künftig nur noch mit digitaler Unterstützung funktionieren, das hat auch die Corona-Pandemie gezeigt. 

 

Die Nutzung der Videosprechstunden stieg von 5 % auf 13 %, welchen Einfluss hat Corona auf diese Entwicklung und wie schätzen Sie die weitere Entwicklung nach der Pandemie ein?

 

Alina Hesse: Die Nutzung von Videosprechstunden ist während der Corona-Pandemie stark gestiegen und die Nachfrage auf Seiten der Patienten so hoch wie noch nie. Die Vorteile liegen auf der Hand: So entfallen nicht nur Wartezeiten oder Anfahrtswege, sondern vor allem können Arzt und Patient in Kontakt treten, ohne sich und andere zu gefährden. Die Zunahme hat aber auch damit zu tun, dass die teils drastischen Vorschriften, die Ärzten zuvor auferlegt waren, während der Pandemie abgebaut wurden: Vor der Corona-Pandemie durfte ein Arzt maximal jede Fünfte seiner Sprechstunden als Videosprechstunde anbieten.

Jede weitere Telesprechstunde ging auf Kosten des Arztes. Zudem müssen Ärzte und Therapeuten derzeit keinen komplizierten Antrag für Videosprechstunden stellen, es genügt eine einfache Information an die zuständige Stelle. Das war vorher auch anders. Wichtig ist jetzt, dass diese Schranken auch künftig nicht wieder hochgezogen werden! Das würde sich weder den Patienten, noch den Ärzten erschließen.

 

Welche technischen Voraussetzungen müssen Ärzte und Patienten zur Wahrnehmung der Videosprechstunde mitbringen?

 

Alina Hesse: Bei der Videosprechstunde kommunizieren Arzt und Patient über einen zertifizierten Videodienstanbieter, der für einen sicheren technischen Ablauf sorgt. Nötig sind neben einer Internetverbindung eine Webcam, Lautsprecher und ein Mikrofon – also technisches Equipment, das in Tablets und Smartphones bereits standardmäßig enthalten ist.

 

Gibt es innerhalb Deutschlands regionale Unterschiede und sind ländliche Bereiche mit urbanen Gebieten gleichauf?

 

Alina Hesse: Telemedizin birgt große Potenziale, um auch in ländlichen Regionen eine flächendeckende ärztliche Versorgung gewährleisten zu können – nicht nur, weil so dem oftmals vorherrschenden Ärztemangel auf dem Land begegnet wird, sondern auch, weil die langen Fahrtwege für die Patienten entfallen. Die Breitbandinfrastruktur in Deutschland ermöglicht heute eine hohe Verfügbarkeit von schnellem Internet.

Eine Videosprechstunde benötigt nur ca. 2-4 Mbits/s. Das funktioniert in den meisten Praxen sowie Haushalten. Aktuell wie perspektivisch geht es nun darum, den Breitbandausbau weiter voranzutreiben. Dafür braucht es einfache und schnelle Genehmigungsverfahren für den Bau von Mobilfunkmasten sowie Möglichkeiten, innovative und oberirdische Verlegungsmethoden einfacher zum Einsatz zu bringen.

 

Was fehlt, um eine Behandlung vollständig remote und digital durchzuführen?

 

(e-Rezept, e-Krankschreibung, ePa, Apps auf Rezept, andere)

Alina Hesse: Grundsätzlich sollte eine Behandlung nur dann vollständig digital durchgeführt werden, wenn die Symptome und die Krankheit des Patienten dies zulassen. Dies vorausgesetzt sind wir auf einem guten Weg, eine europaweite Vorreiterrolle bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen einzunehmen. Schon bald können Ärzte Gesundheits-Apps für das Smartphone (DiGAs) verschreiben, ab 1.1.2021 folgt die Einführung der elektronischen Patientenakte. Ihre flächendeckende Nutzung wird das Kernstück einer vollständig digitalen Behandlung sein. Zugleich sollten digitale Arztbesuche mit der Versorgung vor Ort gleichgestellt werden. 

 

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

 

Alina Hesse: In internationalen Rankings der innovativsten Gesundheitssysteme belegt Deutschland meist einen der hinteren Plätze. Mit der jetzt voranschreitenden Digitalisierung werden wir dies jedoch schnell ändern. Mit elektronischer Patientenakte, dem E-Rezept und den DiGAs hat Deutschland grundsätzlich die Chance, eine internationale Vorreiterrolle in der Digitalisierung im Gesundheitswesen einzunehmen. 

 

Welches Land ist Ihrer Meinung nach Vorreiter und warum?

 

Alina Hesse: Grundsätzlich sind die skandinavischen Länder, wie zum Beispiel Schweden, Dänemark oder Finnland, in Sachen Digitalisierung im Gesundheitswesen weit vorne mit dabei. Hier wird gerade in strukturschwachen und ländlichen Regionen auf die Videosprechstunde gesetzt, wo der Arztbesuch oftmals mit einer weitaus längeren Anfahrtszeit verbunden ist, als dass es in Deutschland der Fall ist.

Außerdem ist die ePA in Dänemark schon seit mehr als 20 Jahren fester Bestandteil des Gesundheitssystems. Und nicht nur das: Die ePA ist zudem in das Gesundheitsportal „Sundhed“ (zu Deutsch: Gesundheit) eingebunden, in dem Bürger nicht nur Einsicht in ihre komplette Krankheitsgeschichte erhalten, wie zum Beispiel in Diagnosen, Behandlungsverläufe oder Röntgenbildern, es können auch Arzttermine vereinbart, E-Rezepte verschickt und Gesundheitsdaten mit Leistungserbringern, Krankenkassen und Apotheken ausgetauscht werden. 

 

Wie schätzen Sie die künftige Entwicklung in Deutschland ein und wo werden wir 2025 stehen?

 

Alina Hesse: Hoffentlich in einem digitalen Deutschland, in dem die Gesundheitsversorgung und alle beteiligten Akteure durchgängig vernetzt sind. Die elektronische Patientenakte ist 2025 dann die die zentrale Behandlungsplattform. Smarte Anwendungen führen Patienten durch den Versorgungsalltag und bieten ihnen individuelle Services, z.B. für die Prävention oder die Unterstützung im Umgang mit chronischen Erkrankungen an. Patienten entscheiden souverän über die Verwendung ihrer Gesundheitsdaten, können diese für die Forschung oder für digitale Gesundheitsanwendungen freigeben.

Digitale Technologien entlasten Ärzte und Pflegepersonal effektiv in ihrem Arbeitsalltag. Expertensysteme auf Basis von KI unterstützen Ärzte bei der Diagnose und identifizieren die auf Patienten perfekt zugeschnittene Therapie. Gesundheitsversorgung findet im Digitalen Deutschland dort statt, wo der Patient ist. Telemedizinische Anwendungen gehören zum Versorgungsalltag und ermöglichen Zugang zu ärztlicher Expertise, wann immer notwendig. Wenn alle beteiligten Akteure an einem Strang ziehen, kann diese Vision bereits in 5 Jahren Realität sein. 

 

65 % Fordern mehr Tempo beim Ausbau digitaler Angebote in der Medizin. Was muss passieren, um die Entwicklung weiter voranzutreiben? (Politik, Krankenkassen, Ärzte, Patienten)

 

Alina Hesse: In der Corona-Krise hat die Telemedizin ihre Leistungsfähigkeit eindrucksvoll unterstrichen und das Gesundheitssystem massiv entlastet. Deshalb muss etwa die Videosprechstunde auch weiterhin Teil der ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung bleiben. Digitale Arztbesuche sollten mit der Versorgung vor Ort gleichgestellt werden und in die vollumfängliche Regelversorgung aufgenommen werden. Wichtig ist auch, den Wirtschaftsstandort Deutschland für Forschung und Entwicklung attraktiver zu machen. Wir brauchen daher einen fairen Wettbewerb, um Innovation im Gesundheitswesen auch langfristig zu fördern. 

 

Wie treiben Sie die Entwicklung von digitalen Angeboten im Bereich Gesundheit voran? (Digital Health Conference)

 

Alina Hesse: Eine leistungsfähige Patientenversorgung funktioniert künftig nur noch mit digitaler Unterstützung. Eine Sektor übergreifende Kooperation mit anderen Politikbereichen ist unabdinglich. Deshalb haben wir die Digital Health Conference etabliert, die in diesem Jahr in die fünfte Runde geht und mehr als 400 Entscheider und Experten aus Politik, Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft im digitalen Raum zusammenbringt.

Der Bitkom bietet damit eine virtuelle Plattform, um sich auszutauschen, zu diskutieren, sich zu inspirieren und die globale Gesundheitsarchitektur zu stärken. In diesem Jahr soll der europäische Austausch und die europäische Zusammenarbeit in den Fokus gerückt werden. Hier werden Neuerungen datenbasierter Technologien und Lösungen thematisiert, um die Potenziale digitaler Innovationen zu nutzen und die Zukunft der Gesundheit sicher, effizient und nachhaltig zu gestalten.

  • Alina Hesse

    Alina Hesse

    Referentin Health & Pharma beim Bitkom e.V.

Der Arbeitskreis Pharma Digital beschäftigt sich mit der Transformation der Pharmabranche. Der Arbeitskreis hat zwei inhaltliche Ausrichtungen: Zum einen die Digitalisierung der Geschäftsbereiche und Entwicklung neuer Geschäftsmodelle Beyond the Pill, auf der anderen Seite die Digitalisierung von Prozessen  oder auch die Herausforderungen durch IT-Sicherheit. Dazu arbeitet der Arbeitskreis intensiv mit anderen Bereichen im Bitkom zusammen. Das Ziel besteht darin, die Akzeptanz für digitale Lösungen zu erhöhen, den rechtlichen Rahmen entsprechend zu gestalten und eine Vernetzung zwischen Experten herbeizuführen.