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Wohnungskrise ist zum bestimmenden Lebensgefühl in Städten geworden

„Die soziale Frage unserer Zeit“ ist laut Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Wohnungsfrage. Mit einem sogenannten Wohngipfel versucht die Regierung zwar, Antworten hierfür zu finden. Doch die besprochenen Maßnahmen setzen an der falschen Stelle an und reichen zudem nicht weit genug, betont das Bündnis „Gemeinsam gegen Verdrängung und #Mietenwahnsinn“.

Veröffentlicht am 1. Oktober 2018

Für viele Verbraucher wird es insbesondere in Städten immer schwerer, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Damit sich die angespannte Wohnraumsituation künftig verbessert, haben Vertreter von Ländern, Kommunen, Wohnungs-, Immobilien- und Bauwirtschaft gemeinsam mit der Bundesregierung vor knapp zwei Wochen den Wohngipfel abgehalten.

Doch statt sich mehrere Tage Zeit für „die soziale Frage unserer Zeit“ zu nehmen, wurde der Gipfel auf wenige Stunden zusammengekürzt. Das Bündnis „Gemeinsam gegen Verdrängung und #Mietenwahnsinn“ hat daher im Vorfeld einen Alternativen Wohngipfel mit mehr als 300 Teilnehmern veranstaltet und zudem eine Petition an die Regierung abgegeben. Welche Forderungen diese enthält und warum die Aktion überhaupt notwendig war, erklären Magnus Hengge von der Nachbarschaftsinitiative „Bizim Kiez“ und Reiner Wild vom Berliner Mieterverein im Interview. Beide engagieren sich gemeinsam beim Bündnis.

Die Wohnungssituation in Deutschland hat sich dramatisch verschärft und bezahlbarer Wohnraum ist vielerorts Mangelware. Wer ist in Ihren Augen am stärksten vom Mietenwahnsinn betroffen?

Magnus Hengge: Menschen, die mit niedrigen Einkommen auskommen müssen, sind am stärksten betroffen. Dies gilt sowohl für Wohnungssuchende, die sich bei Bewerbungen in einem unzumutbaren Maße gegenüber Vermietern „nackig machen“ müssen, wie auch für Bestandsmieter*innen, die in Wohnverhältnissen leben, die wegen niedriger Standards noch günstig sind. Sie werden in vielen Fällen über Modernisierungsmaßnahmen „rausmodernisiert“ und aus den Innenstädten verdrängt.

Bei vielen jungen Familien führt die Wohnraumkrise zudem zu einem „Locked-In-Effekt“: Sie brauchen wegen Zuwachs längst mehr Raum, können es sich aber nicht leisten, bestehende Mietverhältnisse aufzulösen, weil einfach keine bezahlbaren Wohnungen mehr zu finden sind.

Was sind in Ihren Augen die Hauptursachen, wie es dazu kommen konnte?

Magnus Hengge: Zum einen wird Wohnen als Ware gehandelt und besonders die großen Player wie Vonovia oder Deutsche Wohnen stehen für einen Wandel im Wohnungsmarkt. Mieter*innen werden nicht mehr als Nutzer*innen der Dienstleistung Wohnen angesehen, sondern als diejenigen, die hohe Renditen für Anleger*innen erwirtschaften müssen. Die Wohnungswirtschaft sieht in der Wohnungskrise eine Chance, die Mietpreise extrem anzuheben.

Sowohl bei der Steigerung von Mietpreisen, wie bei der Spekulation mit Boden entstehen Renditen für Wenige, die ohne eingebrachte Leistung abgeschöpft werden können. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen lassen dies bisher zu.

Zum anderen hat sich der Staat seit Jahrzehnten aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen und die Anzahl der gebundenen Wohnungen sinkt um mehr als 50.000 pro Jahr. Hier muss komplett umgesteuert werden.

Reiner Wild: Ein weiterer Grund ist auch die immer weiter steigende Nachfrage nach Wohnraum. Vielerorts wächst die Bevölkerung stetig. Allein in Berlin gibt es beispielsweise einen Mehrbedarf von rund 30.000 Wohnungen jährlich.

Die Bundesregierung hat auf ihrem Wohngipfel Maßnahmen gegen den Wohnraummangel beschlossen. Dazu zählen ein höheres Wohngeld und die günstigere Vergabe von Bauland. Die Regierung spricht diesbezüglich von einem „historisch einmaligen Maßnahmenpaket“. Wie beurteilen Sie die vereinbarten Maßnahmen?

Reiner Wild: Insgesamt liegt der Fokus der beschlossenen Maßnahmen zu wenig auf den Betroffenen. So sollte beispielsweise das Plus beim Wohngeld eine Selbstverständlichkeit sein, um die Jahr für Jahr steigenden Mietpreise stemmen zu können. Auch die günstige Vergabe von Bauland hört sich zwar gut an. Wenn man jedoch bedenkt, dass sich diese Maßnahme vor allem auf Wohnraum erstreckt, der von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verwaltet wird, ist der Anteil nicht hoch genug, um dem tatsächlichen Bedarf an Wohnraum gerecht zu werden.

Darüber hinaus wird der versprochene Zuschuss zum sozialen Wohnungsbau auf das Jahr gerechnet verringert. Bisher lag er bei 1,5 Milliarden Euro jährlich, künftig ist es nur noch eine Milliarde. Hinzu kommt, dass weniger Sozialwohnungen fertiggestellt werden als in den letzten Jahren.

Magnus Hengge: Wir brauchen eine grundsätzlich neu aufgestellte Wohnungspolitik. Die Bundesregierung setzt weiterhin auf den Aufbau von Wohneigentum und feuert damit die Preisspirale weiter an. Wir brauchen endlich wieder die Gemeinnützigkeit von Wohnungsbau und wir brauchen massiv regulierende Eingriffe in den Markt, beispielsweise durch eine echte Mietpreisdeckelung und eine Umkehr beim zu beklagenden Abbau von Mieter*innenrechten. Der Schlüssel der Wohnungskrise liegt im Bestand und nicht im Neubau, denn es kann niemals genug gebaut werden, um darüber den Druck aus dem Markt zu nehmen.

Die bereits 2015 beschlossene Mietpreisbremse ist bisher fast wirkungslos geblieben. Nun soll die Regelung verschärft werden. Kann dies die Wohnungssituation entspannen?

Magnus Hengge: Nein, denn nach wie vor fehlen Sanktionen gegen Vermieter, die gegen die Mietpreisbremse verstoßen. Das ist kein Gesetz, sondern eine wohlfeile Richtlinie, die in der Breite weiterhin missachtet wird. Von einer „Schärfung“ kann keine Rede sein. Was wirklich gebraucht wird, ist das Abschaffen der vielen Ausnahmen, bei denen die Mietpreisbremse erst gar keine Anwendung findet.

Gemeinsam mit Unterstützern wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Deutschen Mieterbund haben Sie kürzlich einen Alternativen Wohngipfel inklusive einer Kundgebung vor dem Kanzleramt abgehalten. Wie erfolgreich war Ihre Aktion?

Magnus Hengge: Beim Alternativen Wohnungsgipfel waren über 300 Menschen, die zusammen eine hochkonzentrierte Konferenz mit vielen guten Ergebnissen durchgeführt haben. Die dort aufgestellten Forderungen zeigen, wie ernsthaft und vernünftig Menschen Politik gestalten können, die als Betroffene der Wohnungskrise die Lebensrealität als Bewertungsmaßstab haben.

Zum Protest am Kanzleramt, der parallel zum Wohngipfel der Regierung stattfand, haben wir auch mit einer Petition aufgerufen. Innerhalb von 14 Tagen hat diese Petition über 70.000 Unterstützer*innen gefunden. Bei der Kundgebung selbst haben 2.500 Menschen in großer Vielfalt und gesellschaftlicher Breite demonstriert, denn die Wohnungskrise ist bis tief in die Mitte der Gesellschaft zum bestimmenden Lebensgefühl in den Städten geworden.

In einer Petition an die Bundesregierung fordern Sie ein Maßnahmenbündel zur Verbesserung der Wohnungssituation. Welches sind die wichtigsten Schritte, die schnell für eine spürbare Entlastung für Mieter sorgen können?

Magnus Hengge: Ich möchte vier wichtige Punkte benennen:

  • Wir brauchen eine Mietendeckelung, die die Mieterhöhungen zum Beispiel auf die Höhe der Inflationsrate begrenzt.
  • Die Modernisierungsumlage, also das Abwälzen aller Kosten – ungeachtet der Sinnhaftigkeit und Effizienz – auf Mieter*innen ist ein Skandal und im deutschen Recht ein einzigartiger Fremdkörper, weil hier Kosten eindeutig einseitig und ungerecht verteilt werden. Wir fordern die Streichung des Paragraphen 559. Energetische Sanierungen dürfen die Warmmiete nicht erhöhen.
  • Es ist ein großes Problem, dass Mietshäuser – sogar in Milieuschutzgebieten – in Eigentumswohnungen aufgeteilt werden können. Diese Möglichkeit ist eine der Grundlagen dafür, dass Verdrängung als Geschäftsmodell praktiziert wird. Hier könnte eine einzige kleine Gesetzesänderung sehr viel bewirken und der Krise entgegenwirken.
  • Sogenannte Share Deals ermöglichen es der Immobilienwirtschaft, sich sämtlicher Steuerlast (Grunderwerbssteuer) und den regelnden Eingriffen der Kommunen (über den Milieuschutz) zu entziehen. Share Deals, die nur zum Verschieben von Immobilien durchgeführt werden, müssen schlicht verboten werden.

Reiner Wild: Wichtig ist auch, dass endlich eine Bodenpreisregulierung beschlossen wird. Denn solange es hierbei keine verbindlichen Regelungen gibt, lässt sich das Problem steigender Kosten nicht beheben und Boden wird weiter als Spekulationsobjekt genutzt.

Vielen Dank für das Interview, Herr Hengge und Herr Wild.

Das Interview führte Annabell Meyer.