Anja Schlicht
Anja Schlicht

Redaktionsleitung

Ohne Kohleausstieg verfehlt Deutschland selbst gesteckte Klimaziele

Ende August versammelten sich tausende Menschen im Rheinland, um für den sofortigen Braunkohleausstieg zu protestieren. Um den CO2-Ausstoß in Deutschland zu reduzieren, sind solche Massenproteste aus Sicht des Bündnisses Ende Gelände der schnellste Weg. Denn obwohl sich Deutschland als Vorreiter beim Klimaschutz sieht, hinkt das Land den eigenen Zielen hinterher.

Veröffentlicht am 12. September 2017
Bis 2020 will Deutschland die Treibhausgase um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 verringern. Laut einer Studie der Denkfabrik Agora Energiewende gehen Experten jedoch davon aus, dass die Bundesrepublik nur 30 Prozent erreichen wird. Auch dem Recherchezentrum Correctiv zufolge wird Deutschland die selbst gesteckten Ziele verfehlen. Der CO2-Ausstoß wurde zum Beispiel bisher um lediglich 40 Tonnen reduziert. In den nächsten rund zwei Jahren müssten weitere 160 Millionen Tonnen eingespart werden. Das könne nur mit neuen Gesetzen erreicht werden. Doch diese fehlen.

Auch das Bündnis Ende Gelände kritisiert die Energiepolitik der vergangenen Jahre. Denn sie trägt nicht dazu bei, irgendwelche Klimaziele zu erreichen. Stattdessen werden Gesetze zugunsten großer Energieunternehmen erlassen. „Angesichts der Untätigkeit politisch Verantwortlicher beginnen wir den Ausstieg selbst umzusetzen“, erklärt Insa Vries, Sprecherin des Bündnisses. Zuletzt haben rund 6.000 Menschen im Rheinischen Braunkohlerevier gegen Braunkohle protestiert.

finanzen.de hat mit Vries über die Protestaktion, die Klimapolitik und Maßnahmen gesprochen, mit denen jeder Einzelne etwas gegen den Klimawandel ausrichten kann.

Wie zufrieden sind Sie mit der diesjährigen Blockade der Tagebaue und Kohlekraftwerke?

Insa Vries: Wir vom Bündnis Ende Gelände sind sehr zufrieden mit dem Verlauf der Aktionstage. Wegen unserer Blockaden musste das älteste Kohlekraftwerk Deutschlands seine Leistung für 20 Stunden um 40 Prozent drosseln. Mit diesen CO2-Minderungen haben wir die Klimazerstörung dort verhindert, wo sie entsteht – in der Kohleverstromung. Mit diesen direkten Aktionen konnten wir ein klares Zeichen für den sofortigen Kohleausstieg und eine gerechtere Welt senden.

Zudem haben wir in den Aktionstagen gemeinsam mit vielen verschiedenen Gruppen wie lokalen Bürgerinitiativen und Umwelt-NGOs sowie Kleingruppenaktionen gezeigt, dass Kohleenergie keine Zukunft in Deutschland hat und die breite Bevölkerung sich gegen ungerechte Energiepolitik stellt.

Der Bundesverband Erneuerbarer Energien bemängelt, dass die Energiewende in Deutschland viel zu langsam vorankommt. Wäre die Bundesrepublik in der Lage, den sofortigen Kohleausstieg zu bewältigen?

Insa Vries: Inzwischen gibt es verschiedene Szenarien für einen Kohleausstieg. Aus Klimagerechtigkeitsperspektive sagen wir: die einzig realistische Klimapolitik ist, die Kraftwerke sofort abzuschalten. Denn jede Tonne Kohle, die hier noch verbrannt wird, ist eine zu viel für die Menschen auf pazifischen Inselstaaten, deren Lebensgrundlage schon heute vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht ist. Damit geht einher, dass wir schnell auf Erneuerbare Energien umsteigen müssen, aber auch, dass wir weniger Energie verbrauchen müssen.

Die aktuelle Bundesregierung aber hat den Ausbau der Erneuerbaren Energien gedeckelt und die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat Flächen für Windparks extrem minimiert. Viele Experten sind sich einig: Der Kohleausstieg ist keine Frage der technischen Machbarkeit, sondern des politischen Willens. Angesichts der Untätigkeit politisch Verantwortlicher beginnen wir den Ausstieg selbst umzusetzen.

Sie bieten Aktivisten Unterstützung bei rechtlichen Konsequenzen des Protests. Welche Folgen beobachten Sie besonders häufig?

Insa Vries: Wir fordern eine gerechtere Weltordnung, in der nicht wir den Klimawandel hier weiter produzieren, dessen Folgen wie den Meeresspiegelanstieg oder Hurrikane vor allem Menschen auf der südlichen Erdhalbkugel betreffen. Wir leben hier in unserem Ressourcenverbrauch auf Kosten anderer Menschen. Das  wollen wir nicht länger mittragen. Um dieses Problem deutlich zu machen, begehen wir offen angekündigte Rechtsbrüche, wie das Betriebsgelände von RWE zu betreten und dort die Klimazerstörung zu blockieren. Bisher gab es jedoch noch keine Verurteilung wegen Hausfriedensbruch, weil das Gelände nicht eingefriedet war.

Können sich Aktivisten beispielsweise mit einer Rechtsschutzversicherung zumindest insoweit absichern, dass ihnen im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung die finanziellen Ausgaben erspart bleiben?

Insa Vries: Da wir den Rechtsbruch vorsätzlich und als politisches Zeichen begehen, ist eine Versicherung nicht möglich. Wir tragen die rechtlichen Kosten jedoch gemeinsam und solidarisch. Dazu haben wir auch eine Spendenkampagne gestartet: Kohle unten lassen, statt Protest unterlassen!

Abgesehen vom öffentlichen Protest: Was kann jeder Einzelne tun, um dem Klimawandel entgegenzuwirken?

Insa Vries: Wir machen mit Ende Gelände Massenaktionen gegen Kohleenergie, weil das der schnellste Schritt zu CO2-Reduktionen in Deutschland ist. Aber auch jede einzelne Person trägt Verantwortung. Durchschnittlich haben die Menschen in Deutschland einen sechsmal höheren ‚ökologischen Fußabdruck‘, als die Welt verkraften kann. Für jeden gibt es Stellschrauben:

  • Muss ich importiertes Obst kaufen, das um die halbe Welt gereist ist?
  • Brauche ich das Auto wirklich und auch das achte T-Shirt?
  • Ist nicht vielleicht ein Urlaub in Deutschland oder den Nachbarländern stressfreier als die lange Flugreise?
  • Brauche ich das Fleisch und die Milch oder ist nicht der regionale Apfel gesünder?

Ich könnte lange so weiter fragen. Fakt ist: Wir müssen unsere individuellen Lebensweisen mehr daran ausrichten, was die Welt hergibt. Wir müssen dafür gleichzeitig gemeinsame Werte ändern und die besseren Alternativen „cooler“ machen.

Wie beurteilen Sie die Energiepolitik der letzten fünf Jahre?

Insa Vries: Die Energiepolitik trägt nicht zum Erreichen irgendwelcher Klimaziele bei. Während sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf internationalen Gipfeln als Vorreiterin in Sachen Klimaschutz feiern lässt und weitreichende Klimaziele verkündet werden, werden gleichzeitig keine Maßnahmen beschlossen, die zu diesen Zielen führen.

Deutschland wird die eigenen noch zu geringen Klimaziele meilenweit verfehlen, wenn wir nicht aus der Kohle aussteigen. Stattdessen hat die letzte Bundesregierung die „Kraftwerksreserve“ beschlossen, die zu alte Meiler auch noch dafür bezahlt, als „Reserve“ am Netz zu bleiben – ein Geschenk an die großen Energieunternehmen. Wir treten dagegen für eine erneuerbare und basisdemokratische Energiewende ein, in der nicht Konzerne und Regierungen über die Energieversorgung bestimmen, sondern wir alle mitentscheiden können.

Was erwarten Sie von der nächsten Regierung?

Insa Vries: Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Klimapolitik immer von der politischen Agenda fällt und politisch Verantwortliche keine Entscheidungen für den Klimaschutz treffen, die wirtschaftliche Industrien einschränken könnten. Der sofortige Kohleausstieg und ein strukturelles Umdenken stehen in diesem Jahr nicht zur Wahl. Wir setzen deshalb selbst die politische Agenda und bauen Alternativen in Graswurzelbewegungen auf – für eine global gerechtere Welt.

Vielen Dank für das Interview, Frau Vries.