Pflegesystem würde ohne pflegende Angehörige zusammenbrechen
Bei einer stetig steigenden Zahl an Pflegebedürftigen kommt pflegenden Angehörigen eine immer wichtigere Rolle zu. Doch sich um einen anderen Menschen zu kümmern, wird für viele Pflegende oft emotional und finanziell zur Zerreißprobe. Die Beratungsstelle pflegen-und-leben.de hilft pflegenden Menschen dabei, mit der Belastung umzugehen.
Veröffentlicht am 5. Juni 2019
Laut Bundesgesundheitsministerium sind derzeit mehr als drei Millionen Menschen pflegebedürftig und bekommen Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung. Ein Großteil der Betroffenen wird dabei im eigenen Haus gepflegt – oftmals von Angehörigen. Letztere können der enormen körperlichen und emotionalen Belastung jedoch oftmals nur schwer standhalten.
Um sie zu unterstützen, gibt es die psychologische Online-Beratung pflegen-und-leben.de. Die Psychologin Imke Wolf ist Leiterin der Beratungsstelle und erklärt, vor welchen konkreten Herausforderungen Pflegende oft stehen und welche Maßnahmen es braucht, um diese besser zu entlasten.
Frau Wolf, unzählige Menschen pflegen einen Angehörigen zu Hause. Was bedeutet es emotional für die Pflegenden, sich um einen anderen Menschen zu kümmern?
Imke Wolf: Sobald bei der Pflege eines Angehörigen Liebe im Spiel ist, ist dies der wichtigste Garant dafür, dass die Pflege gerne und freiwillig gemacht wird, von Herzen kommt und zu einer familiären, liebesorientierten Hinwendung wird. Somit bilden Liebe und Zuneigung nicht nur eine gute Ausgangssituation, sondern auch die entscheidende Basis für die Pflege.
Doch dies ist leider nicht selbstverständlich, wie wir täglich in unseren psychologischen Online-Beratungen für pflegende Angehörige erfahren. Nicht selten leiden Pflegende unter großem Stress und unter belastenden Pflichtgefühlen oder die finanziellen Verhältnisse lassen keine Betreuung in einer Pflegeinrichtung zu. Dies kann sich dann natürlich auf die Pflege auswirken.
Gleichzeitig kann aber auch die häusliche Pflege selbst die Pflegenden in eine finanzielle Notlage bringen, wenn sie für die Pflege ihren Beruf zurückstellen oder ganz aufgeben. Hinzu kommt, dass die Pflege mitunter eine jahrzehntelange Aufgabe sein kann, die wenig bis gar nicht vergütet wird. Somit entsteht eine große Versorgungslücke in der häuslichen Pflege. Hier wird erwartet, dass dies von den Familien getragen wird, aber viele können dies einfach nicht leisten.
Mit welchen Herausforderungen haben pflegende Angehörige Ihrer Erfahrung nach besonders häufig zu kämpfen?
Imke Wolf: Zu den größten Herausforderungen in der Pflege gehört sicherlich der Umgang mit Menschen mit Demenz. Denn die Pflegebedürftigen verändern sich hierbei stark, vergessen immer mehr und benötigen zunehmend mehr Betreuung und Anleitung. Das macht es für die Angehörigen oftmals sehr schwer.
Eine weitere Herausforderung ist der erwähnte Aspekt der Verpflichtung. Es kommt vor, dass Pflegende das Gefühl haben, ihren Angehörigen ein Versprechen gegeben zu haben, welches sie unbedingt halten möchten, es aber aufgrund der steigenden Belastung irgendwann nicht mehr können. Pflegende müssen zunehmend mehr leisten und sind daher immer erschöpfter. Irgendwann kommt dann der Punkt, wo andere Lösungen gefunden werden müssen.
Ihr Hauptziel ist es, pflegende Angehörige zu entlasten und zu stärken. Welche Art von Unterstützung bieten Sie Pflegenden genau?
Imke Wolf: Wir sind eine psychologische Online-Beratung, das heißt, wir beraten nicht zu finanziellen Leistungen und Anträgen, sondern im Vordergrund stehen bei uns die Sorgen und Nöte der pflegenden Angehörigen und ihre persönliche Situation. Wir helfen dabei, ihre Herausforderungen, Probleme und Gedanken rund um die Pflege zu sortieren, sei es schriftlich oder per Video-Unterhaltung.
Dem Schreiben kommt eine zentrale Funktion zu, da dies den Ratsuchenden die Möglichkeit bietet, ihre Gedanken in Ruhe zu schildern und sich dabei selbst zu reflektieren. Wir verstehen uns auch als eine Art antwortendes Tagebuch. Wir Beraterinnen antworten immer individuell auf jede Nachricht und begleiten die Ratsuchenden dann bis zu einem halben Jahr.
Gemeinsam gehen wir auf die Suche nach Möglichkeiten, wie sich die emotionale Belastung senken lässt. Ist die Pflege zum Beispiel durch Wut und Aggression gekennzeichnet, helfen wir den Pflegenden, ihre Situation besser zu verstehen – ohne zu bewerten oder zu verurteilen. Unsere Beratung erfolgt kostenfrei außerdem anonym, damit uns die Ratsuchenden möglichst unbefangen und ohne Angst ihre Gefühle anvertrauen können.
Mit den Pflegestärkungsgesetzen und der Konzertierten Aktion Pflege wurden im Pflegebereich zuletzt viele Änderungen auf den Weg gebracht. Wie beurteilen Sie die Maßnahmen?
Imke Wolf: Generell ist jede Verbesserung in der Pflege ein richtiger Schritt. So ist unter anderem die engere Ministerien-übergreifende Zusammenarbeit sinnvoll, um gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Eine besonders wichtige Maßnahme war die stärkere Berücksichtigung von Demenzerkrankten in der Pflegeversicherung, was als guter Anfang anzusehen ist. Es braucht jedoch weitere Verbesserungen, vor allem für pflegende Angehörige.
Angenommen, Sie hätten einen Wunsch an die Bundesregierung frei. Was würden Sie sich im Hinblick auf die Unterstützung pflegender Angehöriger für die Zukunft wünschen?
Imke Wolf: Insgesamt wünsche ich mir eine Aufwertung der häuslichen Pflege. Darüber hinaus braucht es eine stärkere Anerkennung für das, was Pflegende täglich leisten – körperlich wie emotional. Denn pflegende Angehörige sind der größte Pflegedienst Deutschlands, ohne den das komplette Pflegesystem zusammenbrechen würde.
Es gibt zwar bereits Verbesserungen, doch generell läuft hier einiges zu schleppend. In Anbetracht des demografischen Wandels und der stetig steigenden Zahl an Pflegebedürftigen ist es umso wichtiger, pflegende Angehörige zu entlasten, da sie mehr denn je gebraucht werden.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Wolf.