Rentenreformen mit Umsicht und nötigem Weitblick entwickeln
Mit der doppelten Haltelinie fixiert die Bundesregierung das Rentenniveau und den Rentenbeitrag bis 2025 auf eine bestimmte Grenze. Ziel ist es, die Verlässlichkeit der Rentenversicherungssystems zu stärken. Doch genau diese sehen Kritiker wie Professor Kindermann von der Universität Regensburg in Gefahr. Er plädiert für eine neue Berechnungsweise der gesetzlichen Rente.
Veröffentlicht am 22. Juli 2019
Das Rentensystem hat in den vergangenen Jahren einige Änderungen erfahren. Doch eine grundlegende Reform blieb bisher aus. Prof. Dr. Fabian Kindermann von der Universität Regensburg wünscht sich daher mehr Reformmut von der Politik. Der Experte für Volkswirtschaftslehre und Ökonomie im öffentlichen Sektor setzt sich für ein tragfähiges und gerechtes Rentensystem ein, das die Arbeitsleistung unabhängig vom Einkommen honoriert.
Dies kann ihm zufolge mit einer neuen Berechnungsweise der Rente mithilfe von Arbeits- und Einkommensleistungspunkten erreicht werden. Während letztgenannte den bisherigen Entgeltpunkten entsprechen, berücksichtigen erstgenannte, „dass eine Person am Erwerbsleben teilgenommen hat.“. Ein Geringverdiener, der 35 Jahre lang im Schnitt monatlich 1.450 Euro verdient hat, erhielte so statt 517 Euro eine Rente von 836 Euro monatlich. „So wird Arbeitsleistung honoriert und dem Arbeitnehmer der Gang zum Sozialamt im Alter erspart“, erklärt der Experte.
Wann die Regierung den Mut fasst, die Rentenversicherung grundlegend zu reformieren, wird die Zukunft zeigen. Wie Prof. Dr. Kindermann die bisherigen Maßnahmen bewertet, erläutert er im Interview mit finanzen.de.
Was halten Sie von der Mütterrente und der abschlagsfreien Rente mit 63?
Prof. Dr. Fabian Kindermann: Zunächst haben diese beiden Reformen der Rentenversicherung eines gemein: eine Ausweitung des Leistungsspektrums der Rentenversicherung, die vor dem Angesicht des demographischen Wandels eher kritisch zu bewerten ist. Jedoch sollte man die Mütterrente und die abschlagsfreie Rente mit 63 für besonders langjährig Versicherte nicht über einen Kamm scheren. Denn sie treffen unterschiedliche Gruppen von Rentnern und haben daher unterschiedliche ökonomische Folgen.
Können Sie das erläutern?
Prof. Dr. Fabian Kindermann: Die Mütterrente zielt insbesondere auf das Kinderkriegen ab. Für die Nachhaltigkeit unseres umlagefinanzierten Rentensystems, in dem jüngere Generationen für die Rentenzahlung der aktuellen Rentner einstehen, sind hohe Geburtenraten von immenser Bedeutung.
Gleichzeitig wissen wir, dass das Kinderkriegen gerade für Mütter mit hohen Kosten einhergeht. Denn diese müssen in der Regel auf dem Arbeitsmarkt zurückstehen. Die deutsche Familienpolitik der letzten Jahre versucht ganz bewusst, Müttern für diesen Einkommensverlust einen Ausgleich von staatlicher Seite zu garantieren und ihre Position am Arbeitsmarkt zu stärken.
Da passt die Mütterrente gut ins Gesamtbild, insbesondere wenn wir uns vor Augen führen, dass der Anteil Alleinerziehender in der Bevölkerung kontinuierlich ansteigt. Da diese Bevölkerungsgruppe ein hohes Altersarmutsrisiko trägt, profitiert sie besonderes von Leistungen aus der Mütterrente.
Und die Rente mit 63?
Prof. Dr. Fabian Kindermann: Mit der abschlagsfreien Rente mit 63 für besonders langjährig Versicherte verhält es sich meines Erachtens anders. Schaut man hier in die Daten, zeigt sich, dass diese Gruppe durch drei Eigenschaften charakterisiert ist. Sie haben:
- ein langes und stetes Berufsleben hinter sich,
- überdurchschnittlich viele Rentenansprüche und
- eine hohe Lebenserwartung bei Renteneintritt.
Keine dieser Eigenschaften spricht aus Sicht des Volkswirts dafür, dass man diese Gruppe ohne Abschläge besonders früh in die Rente schicken sollte.
Wie bewerten Sie die geplante Grundrente, die Geringverdienern eine Mindestrente sichern soll?
Prof. Dr. Fabian Kindermann: Ich nehme das Thema Altersarmut sehr ernst. Aktuelle Studien sagen für die nächsten zwanzig Jahre einen merkbaren Anstieg der Altersarmut vorher. Sinkende Ersatzraten in der Rentenversicherung spielen dabei sicher eine Rolle. Aber auch die demographische Entwicklung des Haushalts in Form einer Abkehr vom klassischen Familienbild hin zu unsteteren Partnerschaften und Familien leistet dazu ihren Beitrag.
Die aktuell geplante Grundrente halte ich allerdings nicht für das geeignete Mittel, dem Thema wachsende Altersarmut zu begegnen. Meiner Ansicht nach hat sie mehrere Schwachstellen.
Welche sind das?
Prof. Dr. Fabian Kindermann:
- Die Grundrente stellt eine Leistungsausweitung für Rentner dar. Auch wenn sie nicht durch höhere Rentenbeiträge finanziert werden soll, müssen die nötigen Ressourcen irgendwoher kommen. Angesichts des künftigen demographischen Wandels befürchte ich einen Anstieg der Steuerbelastung.
- Das Paket beinhaltet keinerlei Bedürftigkeitsprüfung. Eine detaillierte Vermögensprüfung sehe ich zwar nicht als besonders zielführend an. Allerdings könnte man sehr wohl auf den Bedarf eines jeden Rentenbeziehers schauen, indem man beispielsweise das gesamte einem Haushalt zur Verfügung stehende Einkommen prüft. Die Wirksamkeit einer Reform, die zur Bekämpfung von Armut gedacht ist, müssen wir daran messen, wie effizient sie auf den Tatbestand der drohenden Armut abstellt. Das aktuelle Grundrentenpaket ist hier offensichtlich nicht besonders erfolgreich.
- Es können nur Versicherte mit mindestens 35 Beitragsjahren – Erziehungs- und Pflegezeiten mitgerechnet – in den Genuss einer Grundrentenleistung kommen. Das schafft zusätzliche Ungleichheit. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive gibt es keinen einsichtigen Grund, warum eine Person mit 34 Beitragsjahren überhaupt keine Grundrentenleistung erhalten sollte.
Sie haben die Rentenpolitik mit Blick auf die doppelte Haltelinie als „völlig abseits realistischer Vorstellungen“ bezeichnet. Können Sie unseren Lesern Ihre Kritik erläutern?
Prof. Dr. Fabian Kindermann: Dazu muss ich ein wenig ausholen. Mit der Reform der Rentenversicherung in den 2000er Jahren wurden das erste Mal Haltelinien für den Beitragssatz und das Rentenniveau in der Rentenversicherung ausgegeben. Für das Jahr 2030 waren das 43 Prozent beim Rentenniveau und 22 Prozent für den Beitragssatz. Diese Haltelinien kamen mir realistisch vor.
Glaubt man den Prognosen des Rentenversicherungsberichts 2016, lägen der Beitragssatz 2030 bei 21,8 Prozent und das Rentenniveau bei 44,5 Prozent. Dabei muss man beachten, dass diese Prognose bei einer durchschnittlichen Entwicklung von Bevölkerung und Arbeitsmarkt eintritt. Es gibt durchaus Szenarien, in denen die Vorhersagen schlechter ausfallen. Daher ist es immer gut, einen Puffer zu haben. Das macht eine Haltelinie glaubhaft.
Wie glaubhaft sind die neu beschlossenen Haltelinien?
Prof. Dr. Fabian Kindermann: Mit der Verabschiedung des Rentenpakets im November 2018 wurden die Haltelinien bis 2025 bei 48 Prozent für das Rentenniveau und 20 Prozent für den Beitragssatz gezogen. Zum Vergleich: Im Rentenversicherungsbericht 2016 wurde nur in einem einzigen möglichen Szenario ein Beitragssatz von unter 20 Prozent erreicht: unter der Annahme, dass Löhne und Beschäftigung überdurchschnittlich stark wachsen.
Zieht man nun die weit weniger realistischen Haltelinien in das unter Druck stehende Rentensystem ein, gibt es nur drei Möglichkeiten damit umzugehen.
- Abbau der Reserven der Rentenversicherung (Nachhaltigkeitsrücklage). Dieser macht das System in wirtschaftlich schlechten Zeiten allerdings nur anfällig für Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen.
- Erhöhung der Zuschüssen des Bundes zum Rentensystem. Diese fließen in der Regel aus Steuermitteln. Das Rentensystem wird damit allenfalls intransparenter, aber nicht nachhaltiger finanziert.
- Erhöhung des Regelrentenalters zur Entlastung des Verhältnisses zwischen Beitragszahlern und Rentenbeziehern
Die Beitragssätze und Leistungen unserer gesetzlichen Rentenversicherung können nicht einfach frei gewählt werden, sondern unterliegen volkswirtschaftlichen Beschränkungen. Es ist wichtig, darauf zu achten, dass Haltelinien in realistischen Bereichen gezogen werden.
Alle genannten Anpassungen haben eines gemein: Sie wirken sich negativ auf die langfristige Entwicklung von Beiträgen und Leistungen der Rentenversicherung aus. Wenn man sich die Langfristprognose für das Jahr 2045 ansieht, kommen die großen Probleme erst zwischen 2025 und 2045 auf uns zu. Darauf sollten wir vorbereitet sein.
Gibt es mit Blick auf die Rentensysteme anderer europäischer Länder eines, das Sie besonders tragfähig finden?
Prof. Dr. Fabian Kindermann: Die Rentensysteme der europäischen Länder sind natürlich schwer zu vergleichen, da sie teils völlig unterschiedliche Ansätze haben. Die Niederländer setzen beispielsweise viel stärker auf eine Altersvorsorge am Kapitalmarkt statt auf umlagefinanzierte Systeme. In Schweden existieren seit einiger Zeit sogenannte „fiktive Rentenkonten“, deren Verzinsung automatisch sinkt, wenn die Lebenserwartung der Bevölkerung steigt.
In dieser Fülle von Systemen machte das deutsche Rentensystem auf mich immer einen tragfähigen Eindruck. Daher ist es besonders schade zu sehen, dass jede günstige wirtschaftliche Lage die Politik dazu verleitet, bei der Rentenpolitik zurückzurudern. Das geht zulasten künftiger Generationen und gefährdet die Tragfähigkeit des Systems.
Selbstverständlich ist ein Rentensystem nicht in Stein gemeißelt und muss sich stets den aktuellen Gegebenheiten anpassen. Ich würde mir aber wünschen, dass Reformen mit Umsicht und dem nötigen Weitblick entwickelt werden.
Vielen Dank für das Interview, Herr Prof. Dr. Fabian Kindermann.