Hartz IV-Sanktionen: Existenzangst setzt sich in den Knochen fest
Die SPD will mit dem Bürgergeld Hartz IV hinter sich lassen und einen Sozialstaat aufbauen, der als Partner statt als Kontrolleur empfunden wird. Wie wichtig eine Neuausrichtung des ALG II ist, zeigen die Erfahrungen des Vereins Sanktionsfrei. Wie deren Geschäftsführerin Helena Steinhaus berichtet, setzen Hartz IV-Sanktionen Betroffene so stark unter Stress, „dass sie handlungsunfähig werden.“
Veröffentlicht am 27. Februar 2019
Jedes Jahr sprechen die Jobcenter über 900.000 Leistungskürzungen aus, etwa weil Hartz IV-Empfänger zu wenig Eigeninitiative bei der Jobsuche zeigen, Jobangebote ablehnen oder Maßnahmen zur Eingliederung nicht antreten. Für die Betroffenen ist dies meist ein erheblicher Einschnitt – vor allem, weil das Arbeitslosengeld II ihr Existenzminimum darstellt. In der SPD scheint man sich dessen bewusst zu werden. So forciert die Partei die Einführung eines Bürgergelds, bei dem auf Leistungskürzungen größtenteils verzichtet werden soll.
Helena Steinhaus von Sanktionsfrei e.V. sieht das Bürgergeld „als einen großen Schritt in die richtige Richtung“. Sie hat vor drei Jahren den über Spenden finanzierten Verein gegründet. Das Ziel: eine angstfreie und garantierte Absicherung von Personen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Dazu gleicht Sanktionsfrei beispielsweise Leistungskürzungen über einen Solidartopf aus. finanzen.de hat mit Helena Steinhaus darüber gesprochen, wie belastend Sanktionen sind.
Für den Start Ihrer Initiative haben Sie vor drei Jahren eine sehr erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne durchgeführt. Wieso haben Sie sich für Crowdfunding als Finanzierungsmodell entschieden?
Helena Steinhaus: Für das Crowdfunding haben wir uns entschieden, um zu prüfen, ob überhaupt ein
gesellschaftlicher Bedarf für unsere Idee vorhanden ist und ob wir dadurch die notwendige finanzielle Startfinanzierung bekommen können.
Haben Sie mit dem großen Erfolg gerechnet?
Helena Steinhaus: Der große Erfolg hat uns sehr positiv überrascht und glücklich gemacht. Ich kann nicht sagen, dass wir damit gerechnet haben. Aber wir haben vermutet, dass wir es mit vereinten Kräften schaffen können.
Sie helfen Menschen dabei, Hartz IV-Sanktionen zu vermeiden, diesen zu widersprechen und Kürzungen durch einen Solidartopf auszugleichen. Wie viele Personen nutzen Ihre Unterstützung im Monat?
Helena Steinhaus: Das ist von Monat für Monat unterschiedlich. Wir haben bisher rund 500 Sanktionen ausgeglichen, 185 Fälle gewonnen, 280 Sanktionen im Voraus vermieden und noch 220 laufende Fälle. Die Erfolgsquote liegt bisher bei 90 Prozent. Wir geben durchschnittlich 3.000 Euro bis 4.000 Euro als Sanktionsausgleich monatlich raus.
Außerdem führen wir derzeit eine wissenschaftliche Langzeitstudie durch, innerhalb derer wir 250 Menschen für drei Jahre vor Sanktionen absichern. Wir wollen wissenschaftliche Ergebnisse zu der Frage liefern, wie sich eine sanktionsfreie Grundsicherung auf die Gesundheit, die sozialen Beziehungen und die Arbeitssituation auswirkt. Eine Vergleichsgruppe im selben Umfang nimmt ebenfalls an den regelmäßigen Befragungen der Studie teil.
Wie lange dauert es in der Regel, bis ein Urteil gefallen ist, wenn Sie gegen Sanktionen klagen?
Helena Steinhaus: Das dauert zwischen ein paar Wochen bis zu drei Jahren.
Welcher ist der häufigste Fall, warum sich Hartz IV-Empfänger an Sie wenden?
Helena Steinhaus: Das ist schwer zu sagen. Es geht häufig um Terminversäumnisse, die ihren Grund meistens darin haben, dass die betreffenden Personen entweder keine Einladung bekommen haben oder den Termin nicht wahrnehmen konnten. Auch abgelehnte, weil unzumutbare Arbeiten und Maßnahmen sind dabei, zum Beispiel die Arbeit als Paketzusteller trotz Bandscheibenvorfall. Oder die Aufforderung, Vollzeit zu arbeiten, obwohl die betreffende Person Bundesfreiwilligendienst absolviert.
Was diese Menschen alle gemeinsam haben, ist, dass sie sich von ihren Sachbearbeitern extrem ungerecht behandelt fühlen, das Vertrauen verloren haben und so viel Stress ausgesetzt sind, dass sie handlungsunfähig werden. Die Existenzangst setzt sich in den Knochen fest und die Motivation, Termine wahrzunehmen und weiterführende Gespräche in der Behörde zu führen, sinkt rapide.
Vielen Dank für das Interview, Frau Steinhaus.