Frau massiert sich den Nacken vor Laptop
Marcus Höhne
Marcus Höhne

Content-Manager

Homeoffice: Was müssen Organisationen jetzt beachten?

Seit Pfingsten sind zwar die Straßen wieder belebt, doch die Büros sind nach wie vor verwaist. Obwohl das Arbeiten von Zuhause viele Vorteile mit sich bringt, macht sich Prof. Dr. Sonntag Sorgen darum, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Worauf Beschäftigte im Homeoffice besonders achten sollten und welche Aufgaben die digitale Transformation mit sich bringt, erklärt der Seniorprofessor an der Universität Heidelberg im Gespräch mit finanzen.de.

Veröffentlicht am 7. Juni 2021

Während Ende vergangenes Jahr noch eher darüber geredet wurde, welche Rahmenbedingungen ein erfolgreiches Homeoffice braucht, geht es nun mehr darum, welche Veränderungen ein Jahr Homeoffice auslösen kann.

Für den Organisationspsychologen besteht die größte Herausforderung für Unternehmen und Beschäftigte darin, die Anforderungen der modernen Arbeitswelt gesund und kompetent zu bewältigen.

Im Interview mit finanzen.de gewährt Prof. Karlheinz Sonntag einen Einblick, wie beide Parteien diese Herausforderung am besten angehen.

Seit Anfang des Jahres sind Arbeitgeber dazu verpflichtet, ihren Mitarbeitern wenn möglich das Arbeiten von Daheim zu ermöglichen. Was sind Ihrer Meinung nach die drei größten Herausforderungen für Mitarbeiter*innen und Führungskräfte?

Prof. Dr. Karlheinz Sonntag: Drei Herausforderungen, drei Lösungen – so rezeptartig lässt sich die Arbeitswelt, die sich aktuell in der digitalen Transformation befindet, leider nicht analysieren. Schon gar nicht, wenn in den Unternehmen die Implementierung hybrider, ortsflexibler Arbeitsformen (also Präsenz und Homeoffice) ansteht.

Für Arbeiten von zu Hause (liegt die zentrale Herausforderung für die Beschäftigten in einer stringenten, zielführenden Gestaltung und konsequenten Planung und Strukturierung des Tagesablaufs und Arbeitspensums unter der jeweiligen spezifischen Familiensituation und der (räumlichen) Umgebungsbedingungen.

Dies unter leistungsrelevanten, motivationalen, gesundheitlichen und arbeitsrechtlichen Aspekten intelligent und gelingend zu realisieren, stellt eine weitere Herausforderung für die Fach- und Führungskräfte und das Unternehmen dar.

Um diese Sachverhalte möglichst konfliktarm zu bewältigen, sind Geschäftsleitung und Betriebs-/Personalräte in den veränderungsoffenen Organisationen, die sich für die Einführung ortsflexibler Arbeitsformen entschieden haben, gut beraten, differenzierte und sorgfältige Analysen der Bedarfe und Bedürfnisse der Beschäftigten zeitnah durchzuführen. Das zeigte sich deutlich in unseren Change-Projekten bei Unternehmen der Telekommunikation und der Automobilindustrie, bei denen wir einen solch evidenzbasiertes Vorgehen zu Grunde legten.

Inwiefern beschleunigen die aktuellen Umstände die digitale Transformation in Unternehmen?

Prof. Dr. Karlheinz Sonntag: Auch hier gibt es unterschiedliche Entwicklungen. So haben beispielsweise Unternehmen der Informations-und Kommunikationstechnologie oder im Werbe- und Marketingbereich schon seit einigen Jahren die digitale Transformation in ihren Organisationen eingeleitet und gute Erfahrungen mit ortsflexiblen Arbeitsformen gemacht.

In anderen Branchen, wie im metallverarbeitenden Bereich oder im Maschinenbau, waren vor der Covid-19-Pandemie noch teilweise erhebliche Vorbehalte insbesondere von der Arbeitgeberseite gegenüber der Einführung von Homeoffice vorhanden. Die pandemiebedingte Offensive ortsflexiblen hybriden Arbeitens, die funktionierende digitale Infrastruktur sowie überwiegend positive Erfahrungen der Beschäftigten mit Homeoffice tragen aber zu einer verstärkten Bereitschaft der Unternehmen bei, zukünftig mehr in die Digitalisierung zu investieren und Homeoffice-Tätigkeiten deutlich auszuweiten – so die Ergebnisse zahlreicher Studien zur zukünftigen Entwicklung der Digitalisierung und ortsflexibler, hybrider Arbeitsformen.

Welche Rahmenbedingungen sollten Unternehmen schaffen, damit für die Beschäftigten eine produktive, gesunde und zufriedenstellende Homeoffice-Tätigkeit erreicht wird?

Prof. Dr. Karlheinz Sonntag: Wir haben aktuelle nationale und internationale Studien zum Arbeiten im Homeoffice ausgewertet und eigene Praxisprojekte hierzu durchgeführt. Das Fazit der Befundlage:

  • Breite Zustimmung für Einführung von Homeoffice neben Präsenzarbeit;
  • Mehr positive Aspekte als erwartet;
  • Keine grundsätzliche Verschlechterung der Performanz und Arbeitszufriedenheit.

Aber: Nicht unerhebliche Risikopotentiale liegen in der Entgrenzung von Arbeit und Privatleben, einer zunehmenden sozialen Distanzierung und Isolation, einer mangelnden Vertrauenskultur, Verlust von Bindung an das Unternehmen, hohe Anforderungen an Selbstregulation und Übernahme von Eigenverantwortung, Nichtbeachten gesundheitsrelevanter Faktoren.

Zur Reduktion dieses Risikopotentials sind folgende Rahmenbedingungen und Gestaltungsfelder bei der Implementierung von Homeoffice durch die Entscheidungsträger zu berücksichtigen:

  1. IT-technische Ausstattung (bspw. Bereitstellung von Laptops, Smartphones; einheitliche und robuste Software, remotefähige Anwendung, VPN-Zugänge)
  2. Arbeitsorganisation (bspw. Auftrags- und Zuständigkeitsklärung, Art und Umfang der Aufgabenbearbeitung, Digitalisierung der Arbeitsdokumente)
  3. Teambildung (bspw. Bildung kleiner agiler Einheiten, regelmäßige Teammeetings, feste Präsenztage, Regeln des Informations-und Kommunikationsaustauschs)
  4. Führungskultur (Vertrauensbildung, Wertschätzung, konstruktives Feedback)
  5. Gesundheit (Ergonomie des häuslichen Arbeitsplatzes; Ermitteln psychischer und physischer Belastungen; Entspannungs-und Bewegungsangebote)
  6. Beschäftigte (Übernahme von Verantwortung, diszipliniertes Zeitmanagement, faire Rollenverteilung zwischen berufstätigen Partnern, konsequente Selbstregulation)
  7. Rechtlich-normative Voraussetzungen (Definition der Voraussetzungen für Homeoffice-Tätigkeiten, Festlegen von Ausschlussregeln, Kostenerstattung, Datenschutz und IT- Sicherheit, Betriebsvereinbarung konzipieren und verabschieden)

Das von uns entwickelte Homeoffice Screening beinhaltet diese Gestaltungsfelder und unterstützt das HR-Management bei der Einführung und Evaluation von Homeoffice.

Für viele Arbeitnehmer*innen verschwimmt zunehmend die Grenze zwischen Arbeits- und Erholungsplatz. Welchen Tipp haben Sie an Mitarbeiter*innen und Führungskräfte, damit diese ihre Work-Life-Balance halten können?

Prof. Dr. Karlheinz Sonntag: In der Tat, das ist ein nicht unerhebliches Problem für die individuelle Life Balance und wird in den Studien auch immer wieder genannt. Vor allem besteht die Gefahr, dass bei wenig disziplinierten Zeitmanagement oder dem Auftreten unerwarteter Situationen im Familienverbund Arbeiten in die späten Abendstunden verschoben werden mit der Folge des Schlafentzuges und reduzierter Erholungsphasen.

Auch hier ist also die konsequente Einhaltung einer möglichst störungsfreien Arbeitszeit angesagt, ebenso wie eine faire Aufgaben- und Rollenverteilung zwischen den berufstätigen Partnern und Familienmitgliedern.

Positiv auf die Life Balance und das tägliche Zeitmanagement dürfte sich auswirken, dass bald „homeschooling“ wegfällt und Kita’s wieder geöffnet sind. Im Übrigen gibt es Trainings, die Beschäftigte darin unterstützen, wie sie Lebensbereiche priorisieren und persönliche Ressourcen aktivieren, individuelle Stressauslöser erkennen und diesen entgegenwirken können. Ein solches online-Training (bspw. abrufbar unter: lifebalance.gesundesarbeit-mega.de) regt die Teilnehmer an, sich mit der Harmonisierung ihrer verschiedenen Lebensbereiche kritisch auseinanderzusetzen, Verbesserungspotentiale zu erkennen und somit mehr Achtsamkeit bei der individuellen Gestaltung des Alltags einfließt.

Das Infektionsgeschehen hat sich merklich beruhigt, was denken Sie, hat sich bislang an unserem Verständnis von Arbeit geändert? Was bleibt aus der vergangenen Zeit erhalten?

Prof. Dr. Karlheinz Sonntag: Veränderungen in der Arbeitswelt nehmen an Dynamik zu und haben erhebliche Auswirkungen auf die Organisationen und die in ihnen tätigen Mitglieder. Das klassische Verständnis von Arbeit hinsichtlich Raum, Zeit und Struktur („Arbeite am fixen Ort zu festen Zeit“) unterliegt einem offenkundigen Wandel:

Neue Arbeitsformen zeichnen sich aus durch Flexibilität, flache Hierarchien, wechselnde Arbeitsorte, variable Tätigkeitsmuster, erhöhte Eigenverantwortung sowie eine zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Freizeit. Gestützt und gefördert werden diese neuen zeit- und ortsflexiblen Arbeitsformen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen durch innovative IT-Anwendungen und deren digitale Vernetzungen (bspw. Cloud Computing, Cyberphysische Systeme). Digitale Plattformen gewährleisten darüber hinaus als internetbasierte Foren den unmittelbaren Austausch zwischen Nutzern und Leistungsanbietern.

Sollen Komplexität und Veränderungsdynamik für den Menschen bei seiner Arbeitstätigkeit bewältigbar bleiben, ist ein vorausschauendes Management der Ressourcenerhaltung und -förderung gefragt. Konkret bedeutet das für die digitale Transformation in den Unternehmen, ein präventives HR- und Gesundheitsmanagement zu etablieren, das die veränderten Anforderungs- und Belastungsmuster identifiziert, gesundheitliche Risiken abwendet, Ressourcen und Schutzfaktoren stärkt. Nur so lassen sich Leistungsfähigkeit, Motivation und Wohlbefinden der Fach- und Führungskräfte in der digitalen Transformation aufrecht erhalten.

In mehrjährigen Entwicklungsarbeiten des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojektes „Massnahmen und Empfehlungen für die gesunde Arbeit von morgen (MEgA)“ wurden in enger Zusammenarbeit zwischen betrieblicher Praxis und Arbeitsforschung zahlreiche Konzepte und Methoden für ein präventives HR- und Gesundheitsmanagement erarbeitet. Die verfügbaren Instrumente sind bedarfsorientiert, aufwandsökonomisch und qualitätsgesichert und können aufgerufen werden in der MEgA-Plattform unter: www.gesundearbeit-mega.de.

Vielen Dank für das Interview, Herr Prof. Sonntag.

Weiterführende Informationen zu diesem Thema hält Prof. Dr. Sonntag in seinem neuestem Buch bereit: „Moderne Arbeit präventiv gestalten, gesund und
kompetent bewältigen“

Die moderne Arbeitswelt gesund und kompetent zu bewältigen, ist das Gebot der Stunde. Je stärker dabei präventive Ansätze berücksichtigt werden, desto erfolgreicher und nachhaltiger kann den Erfordernissen der digitalen Transformation begegnet werden. In diesem Buch wird über praxiserprobte, qualitätsgesicherte und aufwandsökonomische Konzepte und Methoden für ein modernes Human Resource (HR)- und Gesundheitsmanagement in den Unternehmen berichtet.
Die Schwerpunkte sind unter anderem :

  • Objektive Beurteilung psychischer Belastung am Arbeitsplatz: das Verfahren GPB-KMU
  • Harmonisierung von Arbeit und Privatleben: das Life Balance Online-Training Moderne Arbeit präventiv gestalten, gesund und kompetent bewältigen